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Männlich, 36, Jungfrau...

Verfasst: Do, 12 Mär 2009 01:22
von dkp73
Ich habe mit Interesse einige Beiträge hier gelesen, in denen sich Frauen über zu wenig sexuelle Aktivität in ihrer Partnerschaft beklagen. Auch wenn ich das durchaus ernst nehme, muss ich darüber lächeln. Ich bin nämlich 36 Jahre und habe noch keinerlei sexuelle Erfahrung und dieses freiwillig-unfreiwillige Zölibat belastet mich zunehmend psychisch und physisch.

In meiner Jugend habe ich die Pubertät einfach „verpasst“, war der einsame introvertierte Streber mit 1er Abitur, der immer nur um Anerkennung und Respekt gekämpft hat. Die zerrüttete Ehe meiner Eltern hat mit dazu beigetragen, dass ich Liebe, Nähe, Zärtlichkeit nicht kennengelernt habe bzw. dann auch nicht annehmen konnte. Sexualität war mir suspekt, Mädchen waren mir unheimlich, händchenhaltende oder knutschende Mitschüler fand ich peinlich. Mangelndes Selbstwertgefühl machte und macht mich sehr abhängig von der Meinung anderer, und mit einer Freundin seine Zeit zu vertrödeln passt nicht zum Bild eines ehrgeizigen und verlässlichen Strebers.

Die erste Verliebtheit mit 21 scheiterte offensichtlich an meiner völligen Unfähigkeit, non-verbale Kommunikation zwischen Mann und Frau richtig zu interpretieren. Aus demselben Grund habe ich sicher auch Frauen, die Interesse an mir gehabt hätten, nicht wahrgenommen.Alle weiteren Verliebtheiten waren im Grunde einseitige keusche Schwärmereien. Sexuelles Interesse von meiner Seite war nie vorhanden, Sehnsucht nach Nähe schon. Ich dachte, dass sich Sexualität in einer Beziehung dann von selbst ergäbe. Das Selbstwertgefühl hat durch die wiederholte zwischenmenschliche Zurückweisung natürlich immer mehr gelitten, ein Teufelskreis von sinkender Libido, sinkender Ausstrahlung, steigender ängstlicher Zurückgezogenheit und Konzentration auf berufliche Leistung, um dort Anerkennung als Liebesersatz zu bekommen.

Schon der Anblick einer barbusigen Frau auf der Titelseite eines in der Bäckerei ausliegenden Boulevardblattes hat mich jedes Mal so peinlich berührt, dass ich wegschauen musste; angeregt durch ein Seminar zur Erweiterung der Komfortzone, habe ich mich mit Anfang 30 diesen Hemmungen gestellt, u.a. durch den Besuch eines SexShops und durch Outings in diversen Internet-Foren. Ich habe in mich gehorcht, um herauszufinden, ob ich sexuell erregbar bin und wenn ja, durch was. Es war ein steiniger Weg, endlich meine Körperlichkeit akzeptieren zu können. Erst danach fingen Frauen tatsächlich an, auch eine erotisierende Wirkung auf mich auszuüben. Massagen und erotische Rauf- und Kuschelsessions mit Escort-Damen hatten für mich therapeutische Wirkung, indem ich körperliche Nähe nicht nur zulassen, sondern sogar genießen gelernt habe. Nur intime Kontakte unterhalb der Gürtellinie waren für mich tabu. Dazu bräuchte ich auf jeden Fall eine intime emotionale Verbundenheit mit viel Vertrauen, und selbst dann bin ich mir nicht sicher, ob ich dazu in der Lage wäre. Ich habe zwar Sehnsucht nach einer tiefen emotionalen Beziehung, nach Erotik und Körperlichkeit, aber was den Genitalbereich angeht, empfinde ich Ekel und keinerlei sexuelle Erregung. Ich bin aber davon überzeugt, dass Liebe und Leidenschaft diese Hemmschwelle überwinden könnten. Erregend finde ich bislang das spielerische Überwältigtwerden von einer Frau, die größer und stärker ist als ich, und ihr Gewicht auf mir zu spüren. Ist das irgendwie eine „Fehlprogrammierung“ sexuellen Lustempfindens durch kindliche Traumata? Ist das eine Versinnbildlichung der unterdrückten Sexualität, indem mich die Frau im wahrsten Sinne des Wortes mit ihrem Gewicht „unterdrückt“? Oder ist das Ausdruck einer tiefen Sehnsucht nach mehr, indem mich die Frau zu mehr „zwingt“ und ich damit die Verantwortung abgebe? Ich mache mir wahrscheinlich nur einfach zu viele Gedanken und kann den Kopf einfach nicht abschalten. Das ist beim Sex wohl sehr hinderlich.

Mit 34 habe ich mich das erste Mal in eine Frau verliebt, von der ich mich nicht nur emotional, sondern auch körperlich angezogen gefühlt habe. Es war die erste Frau, in deren Gegenwart ich mich weich wie Wachs fühlte und von der ich am liebsten ins Bett gezerrt worden wäre; sie hätte alles mit mir machen können. Ihr Flirt mit mir war aber nur ein Spiel für sie und dass sie mir ihre intimsten Geheimnisse anvertraute, war letztendlich auch nur dem Umstand zu verdanken, dass sie mich nicht als Mann, sondern als „beste Freundin“ wahrgenommen hat. So habe ich viele platonische Freundschaften mit Frauen, die mir sehr wichtig sind, aber in den wenigen Fällen, in denen ich mehr für die Frau empfinde, ist das ein sehr niederschmetterndes Problem für mich, einfach nicht als Mann wahrgenommen zu werden.

Nach dieser letzten unglücklichen Verliebtheit war ich endgültig so hilflos, dass ich eine Gesprächstherapie bei einer Sexualtherapeutin begonnen habe. Diese haben wir aber nach sechs Sitzungen in gegenseitigem Einvernehmen abgebrochen; durch meine rationale Selbstreflektiertheit sei eine Gesprächstherapie nicht hilfreich für mich, von ihrem Standpunkt sei ich austherapiert.

Trotzdem geht es mir nicht gut. Meine unerfüllte Liebe belastet und blockiert mich. Zudem leide ich phasenweise unter starken einseitigen Hodenschmerzen, die organisch ohne Befund sind, und ich frage mich, ob das psychosomatisch durch unterdrückte Sexualität bedingt sein kann. Ich fühle mich wie ein total verunsicherter pubertierender Teenager und ein kleines Kind, das nach Liebe und Aufmerksamkeit schreit. Und ich habe Angst und Panik vor dem „ersten Mal“, davor, nicht geliebt und nicht angenommen zu werden, und einer potentiellen Partnerin zumuten zu müssen, mich da abzuholen, wo ich bin. Und ich habe Angst, weiterhin nur für die Arbeit zu leben und das Wichtigste im Leben und die Chance auf eine eigene Familie zu verpassen.

Ich möchte in Kürze eine neue Psychotherapie beginnen, die einen anderen Ansatz als über die rationale Ebene geht. Ob das auch meine sexuellen Probleme lösen kann, bezweifle ich noch. Einen anderen Weg sehe ich für mich im Moment aber nicht. Auf den Engel, der vom Himmel fällt und mich erlöst, werde ich sicherlich vergeblich warten.

Ich freue mich über Antworten, Anregungen, Fragen...

dkp73

Re: Männlich, 36, Jungfrau...

Verfasst: Mo, 16 Mär 2009 17:38
von ISG-Team
Lieber dkp73,
vielen Dank für Ihre ausführliche Schilderung dessen, was Sie bewegt, berührt und dessen, was Sie bisher erlebt haben. Sie scheinen sehr reflektiert zu sein, sich bereits viele Gedanken über den Ursprung und die Folgen Ihrer "mangelnden Sexualität" gemacht zu haben und nach Antworten zu suchen.
Eine Sexualtherapie haben Sie bereits abgebrochen. Insgesamt ist eine Sexualtherapie dann sinnvoll, wenn es wirklich ein begrenztes sexuelles Problem gibt. Bei Ihnen scheint das Wesentliche aber an einem anderen Punkt anzusetzen, der auch in der Therapie angegangen werden sollte. Besonders Ihre Erfahrungen im Kindesalter könnten eine wichtige Rolle in der Aufarbeitung spielen. Jene Erfahrungen bzgl. Nähe und Distanz, bzgl. Lieben und Geliebtwerden, die wir von klein an machen, bestimmen wesentlich unser späteres Leben mit. Eine stärkere Fokussierung auf emotionale Inhalte in einer Therapie ist sicherlich eine sehr sinnvolle Idee. Besonders bei Personen, die vorwiegend kognitiv an viele Dinge herangehen, ist die emotionale Seite oft die Interessantere. Man kann sich viel erklären, über vieles nachdenken, aber welche Gefühle, vergangene und aktuelle Erfahrungen auslösen, ist noch einmal eine ganz andere Sache und sollte keinesfalls vernachlässigt werden. Hierfür ist es natürlich wichtig, offen in die Therapie zu gehen und sich auch einer Auseinandersetzung mit emotionalen Inhalten zu stellen. Eine psychologische Diagnostik und/oder Plananalyse wäre ebenfalls eine sinnvolle Möglichkeit. Vielleicht sprechen Sie Ihre neue Therapeutin einmal darauf an.
Es erscheint sehr wahrscheinlich, dass sich Ihre Sexualität, Ihr Umgang mit Frauen und auch mit sich selbst, verändern wird, wenn Sie einige zentrale Bereiche Ihres Lebens noch einmal therapeutisch genauer betrachten und mit Ihrer Therapeutin Möglichkeiten der Veränderung herausfinden. Zunächst aber sollte erst einmal eine möglichst detaillierte Exploration im Vordergrund stehen. Diese hilft Ihnen sicherlich bereits, sich selbst besser kennen zu lernen, z.B. welche Schemata bei Ihnen aktiv sind, welche Beziehungsmuster Sie leben und welche Auswirkung frühere Beziehungserfahrungen auf Ihren heutigen Alltag haben.
Für Ihre neue Therapie wünschen wir Ihnen alles Gute.
Mit freundlichen Grüßen,
Ihr ISG-Team

Re: Männlich, 36, Jungfrau...

Verfasst: Do, 19 Mär 2009 03:20
von dkp73
Vielen Dank für die ausführliche und ermutigende Antwort.

Ich lege im Moment wirklich große Hoffnung in die neue Therapie.

Es geht dabei aber um systemische Arbeit und nach einem ersten Gespräch wurde mir auch sehr zu einer Familienaufstellung geraten. Danach soll natürlich die persönliche Arbeit weitergehen. Außerdem wurde mir eine medikamentös (homöopathisch) begleitende Unterstützung empfohlen, um meine Blockaden und starken Ängste zu lösen. Fachlich weiß ich nicht, was ich davon halten soll, aber ich bin offen und bereit dazu, alles auszuprobieren, was mir helfen könnte. Der Leidensdruck und die Depression aufgrund des Liebeskummers ist einfach im Moment zu groß.

Verlorene Zeit kann mir das allerdings auch nicht zurückholen.

dkp73

Re: Männlich, 36, Jungfrau...

Verfasst: Mo, 23 Mär 2009 17:54
von ISG-Team
Lieber dkp 73,

eine systemische Therapie kann durchaus sinnvoll sein, weil sie besonders Systeme, zB Ihr Familiensystem mit in den Fokus der Aufmerksamkeit nimmt. Wenn Sie vermuten, dass hier ein wesentlicher Grund für Ihr aktuelles Erleben liegt, macht diese Therapieform sicher Sinn. Bei Familienaufstellungen bietet es sich meist an, sich vorher etwas schlau zu machen, welche Methode verwendet wird. Manche Personen erleben beispielsweise eine Familienaufstellung nach Hellinger als eher negativ, andere finden diese hingegen sehr hilfreich. Vielleicht lesen Sie sich zu der Thematik etwas ein, damit Sie eine Vorstellung davon bekommen, was schließlich auf Sie zukommen kann.
Weiterhin sprechen Sie von einer depressiven Verstimmung. Wurde dies schon einmal psychiatrisch abgeklärt? Auch die psychosomatischen Beschwerden sollten in diesem Rahmen beim Arzt nicht unerwähnt bleiben. Gegebenenfalls ist eine medikamentöse antidepressive Therapie zusätzlich zu der Psychotherapie sinnvoll.
Und natürlich haben Sie Recht, dass verlorene Zeit nicht zurückgeholt werden kann, dennoch sollten Sie auch bedenken, dass Sie erst 36 Jahre sind, jung genug, um noch viele neue Erfahrungen zu machen und das ein oder andere im Leben eventuell zu ändern, um letztendlich zufriedener zu leben.
Wir wünschen Ihnen für Ihren Weg alles Gute.
Ihr ISG-Team