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Spermien in Seenot

Die Qualität des männlichen Spermas soll seit Jahren rapide in den Keller gehen...

Die Manneskraft scheint dramatisch nachzulassen. Wie "Krisenberichte" lesen sich wissenschaftliche Studien zur männlichen Fruchtbarkeit seit Jahren. Die Anzahl und Qualität der Spermien sinken unaufhaltsam, warnen Forscher. Werde die Entwicklung nicht gestoppt, sei die Zeugungsunfähigkeit des Mannes wohl nur noch eine Frage von Jahrzehnten. Auch die Medien sorgten sich um das Wohlergehen der Spermien: "Der Wille ist stark, aber das Sperma ist schwach", konnte man etwa lesen. Die Menschheit könnte auf dem besten Wege sein, sich selbst auszurotten. Doch jetzt zeigt eine kritische Analyse der Fruchtbarkeitsstudien: Dass die Anzahl der Spermien zurückgeht, lässt sich nicht belegen. Viele der alarmierenden Aussagen beruhen auf fehlenden Standards bei den Messmethoden, einer falschen Statistik und Gruppen von Studienteilnehmern, die man nicht ohne weiteres vergleichen kann.  "An der Spermienkrise ist nichts dran", sagt Prof. Eberhard Nieschlag vom Centrum für Reproduktionsmedizin und Andrologie in Münster. Er stellt sogar fest: "Wir haben klare Hinweise, dass sich die Spermienqualität der Männer nicht geändert hat."

 

Männlicher Nullpunkt in 2060

Die Geschichte der Spermienkrise beginnt in den 1980er Jahren. Damals beobachteten Forscher in einzelnen Studien, dass sich die Samenqualität der Männer zu verschlechtern schien. Wissenschaftler aus Kopenhagen analysierten daraufhin die Daten von 62 Studien aus den Jahren 1938 bis 1990 und stellten fest: Spermavolumen und Anzahl der Spermien hatten tatsächlich deutlich abgenommen. Pro Jahr, so ergaben Berechnungen, sinke die Zahl der Spermien um etwa eine Million pro Milliliter Ejakulat. Würde sich dieser Trend fortsetzen, wäre etwa um das Jahr 2060  der Nullpunkt erreicht. Bevor sich die Menschheit durch Umweltverschmutzung, Hunger und Kriege ausrotten würde, stürbe sie vermutlich wegen nachlassender Fruchtbarkeit aus - eine Angst machende Vorstellung.

 

Enge Jeans, Alkohol, Klimaerwärmung

Die im Jahre 1992 veröffentlichte Studie sorgte  für Aufregung - wie zu erwarten. Der Spiegel widmete der "Fruchtbarkeitskrise" seine Titelgeschichte, viele andere Medien berichteten ebenfalls. Wissenschaftler suchten fieberhaft nach Erklärungen. Hypothesen gab es genug: Einmal sollten zu enge Jeans verantwortlich sein, dann waren es Tabak und Alkohol, Stress, Umweltgifte, radioaktiver Niederschlag oder gar die Klimaerwärmung. Einige Forscher hatten hormonaktive Chemikalien im Verdacht, etwa Phthalate als Weichmacher für Kunststoffe oder Bisphenol A aus Babyflaschen. Diese sollen die Entwicklung der Spermien beeinträchtigen.  Schließlich brachte man die nachlassende Kinderzahl in westlichen Industrieländern mit der Spermienkrise in Zusammenhang und auch die zunehmende Anzahl künstlicher Befruchtungen. In vielen Ländern wurden Studien gestartet und Männer spendeten ihr Sperma für die Wissenschaft.

 

Unveränderte Samenzahl

Der Androloge Nieschlag analysierte kürzlich die bisher erschienenen Studien gemeinsam mit niederländischen Forschern. "Nach der dänischen Studie gab es 27 weitere, die die Zusammenhänge untersuchten", fasst er zusammen. "Von diesen zeigen die meisten, dass sich die Spermienqualität in den vergangenen Jahrzehnten entweder gebessert hat oder unverändert blieb." Dass man die Ergebnisse sehr kritisch sehen muss, bestätigen Studien von Statistikern der Uni Mainz und des Reproduktionsmediziners Harry Fisch von der Cornell University in New York. "Die dänischen Forscher haben inzwischen ihre eigenen Ergebnisse widerlegt", sagt Nieschlag. "Sie untersuchen seit 1996 jedes Jahr das Sperma von 350 jungen Männern kurz vor der Musterung. Seitdem hat sich die Samenzahl im Durchschnitt nicht geändert."

 

Andere Länder, andere Spermien

Trotzdem scheint die Legende von der Spermakrise nicht an Popularität einzubüßen. "Geschichten über Krisen verkaufen sich halt besser als positive Nachrichten", vermutet der Androloge. Dabei seien die Unzulänglichkeiten der dänischen Studie von 1992 schon lange bekannt: "Das sind zum einen die nicht standardisierten Messmethoden in den 62 Einzelstudien. Standardmäßig zählt ein Labormitarbeiter die Spermien unter dem Mikroskop aus. Vergleicht man die Zählung eines Laboranten mit der eines anderen, kann sich dies ziemlich unterscheiden." Außerdem hätten Labore unterschiedliche Färbemethoden oder Objektive, die man nicht ohne weiteres vergleichen kann. Ein weiteres Problem ist die nicht einheitlich erfasste Karenzzeit, das heißt die Zeit von der letzten Ejakulation bis zur Gewinnung der Samenprobe im Labor. "Ist dieser Abstand zu kurz oder zu lang, kann dies die Menge der Spermien ziemlich beeinflussen."

 

Hinzu kommt, dass die Forscher Männer aus verschiedenen Ländern verglichen. "Wir wissen aber, dass sich die Anzahl der Spermien von Land zu Land ziemlich unterscheiden kann." Die meisten Studien vor 1970 stammten aus den USA, vor allem New York - Gegenden mit sehr hohen Spermienkonzentrationen. Nach 1970 wurden deutlich weniger Studien in den USA durchgeführt. Der zeitliche Vergleich mit Ländern geringer Konzentration kann einen Abwärtstrend zeigen, der in Wirklichkeit nicht existiert.

 

Alarmierend, aber vollkommen normal

Als weitere Schwierigkeit kommt hinzu, dass die Anzahl der Spermien noch keine definitiven Aussagen über die Fruchtbarkeit zulässt. Denn mindestens ebenso wichtig wie die Anzahl der Spermien sind andere Werte im Sperma, unter anderem wie die Spermien aussehen und wie gut sie sich bewegen. All dies bestimmen Reproduktionsmediziner in einem Spermiogramm. "Die Untersuchung ist eigentlich sehr verlässlich, wenn sie nach den entsprechenden Kriterien durchgeführt wird", sagt Georg Griesinger, Reproduktionsmediziner am Kinderwunschzentrum der Uni Lübeck. "Das Problem bei den Studien ist aber, dass die Werte eines Spermiogramms ziemlich schwanken können. Und zwar nicht nur zwischen verschiedenen Männern, sondern auch bei ein und demselben Mann zu verschiedenen Zeitpunkten."

 

Dies kann nicht nur durch die Karenzzeit beeinflusst werden, sondern auch von der Jahreszeit, einer erhöhten Hodentemperatur durch langes Sitzen oder Rauchen. Ein einzelner Befund sei daher nicht sehr aussagekräftig. "Wir beobachten immer wieder, dass auch Männer mit einer verminderten Spermienqualität im Spermiogramm Kinder zeugen können", sagt Christian De Geyter, leitender Reproduktionsmediziner am Unispital Basel. "Das könnte damit zu tun haben, dass die Grenzwerte, nach denen wir uns bislang richteten, eher als ein fließender Übergang zwischen dem Normalen und dem Abnormalen betrachtet werden müssen." Mit anderen Worten: Eine scheinbar alarmierende Spermienanzahl kann in Wahrheit vollkommen normal sein.

 

Die Weltgesundheitsorganisatin (WHO) ist daher inzwischen auch von starren Grenzwerten abgerückt. Bei den meisten Messwerten gibt sie seit kurzem Intervalle für die normalen Werte an. "Mit den neuen Grenzwerten können wir in Zukunft viel besser beurteilen, ob die Fruchtbarkeit von Männern nachlässt oder wie sich Umweltfaktoren darauf auswirken", sagt De Geyter.

 

Aussterben nicht in Sicht

Klarheit bringen hier nur langfristige Studien, die das Sperma von Männern aus einer Region und mit den gleichen Methoden über einen längeren Zeitraum untersuchen. Bislang ist weder nachgewiesen noch widerlegt, ob Schadstoffe oder andere Faktoren die Spermienproduktion verringern können. "Wir haben noch viel zu wenige Daten", sagt Eberhard Nieschlag. "Außerdem wissen wir überhaupt nicht, ob die berechneten Unterschiede in der Samenzahl nicht nur als Zahl auffallen und sich auf die Fruchtbarkeit gar nicht auswirken." "Viel problematischer als eine vermeintliche Spermienkrise ist die Lebensplanung", gibt der Gynäkologe Griesinger zu Bedenken. "Frauen werden im Durchschnitt immer älter, wenn sie ihr erstes Kind bekommen. Und dass mit steigendem Lebensalter die Fruchtbarkeit sinkt, ist jedenfalls eindeutig nachgewiesen." Auch Nieschlag bestätigt: "Wir sollten uns lieber auf wichtigere Probleme konzentrieren." Das sei nicht nur das Lebensmodell der heutigen Generation in den Industrieländern, sondern auch die Überbevölkerung in den ärmeren Ländern. "Aussterben werden wir jedenfalls nicht so schnell."

 

auf: netdoktor.de

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